Die Freude und Erleichterung von Syrerinnen und Syrern über die Befreiung von der Herrschaft des Assad-Regimes ist riesig.

In etlichen Gesprächen schilderten Syrer ihre Gefühle als „wie im Traum“, „schönster Tag in meinem Leben“ und schlicht „unglaublich“. Rückkehr in die Heimat und zur eigenen Familie, Suche nach und womöglich Wiedersehen von verschleppten und inhaftierten Verwandten, Bekannten und Freunden, Wiederaufbau – die Erfüllung all dieser sehnsüchtigen Wünsche scheinen nun für viele nach Jahren und Jahrzehnten des Wartens und Leidens endlich möglich.

An dieser Stelle möchte ich alle Syrerinnen und Syrern zur Befreiung beglückwünschen – und gleichzeitig allen Opfern des Assad-Regimes gedenken: Den Hunderttausenden Toten, Gefolterten, Inhaftierten, Verwundeten und den Millionen Vertriebenen, die ihrer Heimat und Lebensgrundlage beraubt wurden. Nun ist der Alptraum vorbei, der Tyrann gestürzt und in Syrien wird das erste Mal seit mehr als fünfzig Jahren ein neues Kapitel aufgeschlagen, dessen Titel „Syrien nach Assad“ lautet.

In allen Gesprächen, die ich in den vergangenen Tagen mit Menschen aus Syrien geführt habe, waren neben der riesigen Freude über die Befreiung noch zwei weitere Themen bestimmend. Alle schilderten einerseits ihre große Sorge sowohl über die bewaffneten anti-Assad Kräfte, die von dschihadistischen Milizen dominiert werden und nach ihrem Vormarsch das Land nun militärisch kontrollieren. Zwar ließ der Anführer der mächtigen Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), Ahmad al-Shara (aka. Abu Mohammad al-Jolani) vor wenigen Tagen in einem Interview mit CNN Arabic gemäßigtere Töne anklingen und betonte seine Ablehnung von Konfessionalismus und die Jahrtausend alte Geschichte von einigen Glaubensgemeinschaften in Syrien. Zweifel an der Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit dieser Aussagen sind jedoch durchaus angebracht.

Die HTS ist vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Terrororganisation gelistet und insbesondere die Vorgängerorganisation „Nusra Front“, die al-Shara jahrelang führte, wird für etliche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Bei der Eroberung der Millionenmetropole Aleppo wurden außerdem mindestens zwei jesidische Männer von HTS-Kämpfern ermordet. Diese Tat sorgt unter Jesidinnen und Jesiden innerhalb wie außerhalb Syriens nun für große Verunsicherung und Angst.

Die Befürchtung ist, dass Jesiden in Syrien nun aufgrund ihrer Identität wieder ins Fadenkreuz von Extremisten geraten und ihre Existenz im Land weiter bedroht bleibt. Aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage und wegen gezielter Verfolgung durch Islamisten mussten zahlreiche jesidische Familien in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten das Land verlassen und ins Ausland fliehen. Vor diesem Hintergrund ist völlig unklar, wie sich die neuen Machthaber gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten in Zukunft verhalten werden und welchen Platz und welche Rechte sie bspw. in einer neuen syrischen Verfassung erhalten werden. Auch die Reaktionen der Nachbarländer, insbesondere der Türkei, werden sorgenvoll kommentiert. Droht ein neuer Krieg im Norden des Landes?

Anderseits überwogen bei allen meiner syrischen Gesprächspartner dennoch Hoffnung und Zuversicht, dass die starke und lebendige syrische Gesellschaft sich die Gestaltungsmöglichkeit nun nicht wieder wegnehmen lasse. „Es geht nicht schlimmer als Assad“ – diesen Satz hörte ich immer wieder. Das Durchhaltevermögen und die Kraft der Hoffnung der syrischen Zivilbevölkerung hat letztendlich über den Tyrannen Assad triumphiert. Ihr gebührt Respekt und Unterstützung! Nun gilt es sicherzustellen, dass die Syrerinnen und Syrer das junge Kapitel „Syrien nach Assad“ endlich selbst schreiben können.