In unserer Reihe „Jung, Jesidisch, Erfolgreich“ stellt die Stelle für Jesidische Angelegenheiten junge JesidInnen vor, die in Deutschland und Europa nicht nur eine neue Heimat gefunden haben, sondern mit besonders gutem Beispiel in unserer Gesellschaft vorangehen und uns zeigen, wie Integration und das Erfüllen individueller Träume Hand in Hand gehen.
Die junge Jesidin Hakeema Taha lächelt gerne, steckt ihre Umgebung förmlich mit guter Laune an. Was sie aber erlebt hat, wünscht man auch seinem ärgsten Feind nicht. „Am 15. August 2014 haben Daesh-Terroristen meine sieben Brüder, meine Mutter und vier meiner Neffen ermordet. Einfach so, weil sie nicht zum Islam übertreten wollten.“ Aber wie es sich für eine Jesidin gehört, lässt sich die junge Frau nicht unterkriegen: nach ihrer Zeit in den Fängen der Terrorbande Islamischer Staat kommt sie nach Deutschland, lernt die deutsche Sprache, findet neue Freunde und schließt eine Ausbildung ab. „Leicht war es nicht und ist es noch immer nicht. Aber ich wollte diesem Land auch etwas zurückgeben und niemandem auf der Tasche liegen“, sagt sie so bescheiden, als wäre sie nicht durch die Hölle gegangen. Der Stelle für Jesidische Angelegenheiten erzählt sie ihre Geschichte nur, damit sie nicht vergessen wird.
Im weißen Kittel macht Hakeema eine besonders gute Figur – selbst wenn sie manchmal ins Schwitzen kommt. „Diese Arbeit ist manchmal nicht einfach, aber ich liebe es, meinen Mitmenschen zu helfen.“ Die junge Frau aus Shingal (arab. Sinjar) ist Pflegehelferin. Irgendwo in Baden-Württemberg.
„Hast Du Dir als Kind ausmalen können, mal Tausende Kilometer entfernt zu leben und zu arbeiten?“, fragen wir sie. Sie lenkt ihren Blick so in die Ferne, dass wir ihre Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, die sie in Worte packt, fast schon selbst vor unserem inneren Auge sehen können: „Warum hätte ich mir das überhaupt ausmalen oder vorstellen sollen?“, fragt sie rhetorisch. „Ich hatte eine schöne Kindheit, eine schöne Jugend. Keine Entbehrungen, eine sorgende, große Familie, mit der ich viel gelacht habe. Trotzdem war irgendwo immer eine dunkle Wolke über uns, wir waren als Jesiden nie richtig sicher. Unsere islamischen Nachbarn haben uns nie so freundschaftlich oder gar brüderlich betrachtet wie wir sie. Und diese Einstellung mündete schließlich in das, was wir kennen.“ Hakeema meint den Völkermord.
Wir fragen erst gar nicht, was sie uns erzählen möchte. Es fließen Tränen.
„Der IS ist bereits in der Nacht eingefallen [in der Nacht vom 02. auf den 03. August, Anm. d. Red]. Das haben wir mitbekommen, weil sich die Jesiden in den Dörfern Gir Zerk und Sîba Shêkh Khidir mit unglaublicher Intensität gewehrt haben. Die Kämpfe gingen bis um fünf oder sechs Uhr am Morgen.“
Man könnte meinen, das wäre wertvolle Zeit, um fliehen zu können, aber viele Menschen glaubten nicht daran, dass die Terroristen des Islamischen Staates durchbrechen könnten. Hakeema erinnert sich: „Wir glaubten nicht, dass Daesh irgendwann vor uns stehen könnte. Immerhin waren über Zehntausend kurdische Peschmerga, kurdische Soldaten in Shingal stationiert und tagein, tagaus hieß es, sie würden die Region um jeden Preis verteidigen.“
So ist es nicht gekommen: die dort stationierten Peschmerga-Kämpfer sind ohne Vorwarnung verschwunden noch bevor der IS eingefallen ist.
„Es ging alles ganz schnell. Sie haben uns in Kodscho gefangen genommen. Sie trennten Männer, Frauen und Kinder. Wir Mädchen und Frauen kamen in die dortige Schule, die Männer wurden woanders hingebracht.“
Kodscho, das Dorf, aus dem auch die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad stammt, sollte noch weltweit für Schlagzeilen und Entsetzen sorgen: am 15. August, nach einem zweiwöchigen Ultimatum, den Islam anzunehmen oder zu sterben, stand der Entschluss der Jesidinnen und Jesiden fest:
„Lieber das Grab, als unseren Glauben zu verraten“, sagt Hakeema Taha. „So hatten wir uns gemeinschaftlich geschworen!“
An diesem Tag hörte das Dorf auf zu leben: Rund 600 Männer und Jugendliche Wurden erschossen, lebendig enthauptet, lebendig verbrannt und lebendig begraben. „Auch viele Frauen, junge und alte, wurden umgebracht, weil sie sich zu sehr gewehrt haben oder für den IS einfach zu alt und uninteressant waren“, erinnert sich Hakeema.
Sie wird mit vielen anderen jungen Frauen zwei Tage nach ihrer Gefangennahme nach Syrien gebracht, in die Hauptstadt der Terroristen, nach Raqqa.
Die junge Frau erlebt den Völkermord an ihrer Gemeinschaft der Jesiden hautnah: brutale Übergriffe, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und Morde – „Jeden Tag und aufs Neuste. Sie haben uns immer gesagt, dass wir keine Menschen seien. Aber ich wusste, sie waren keine!“
Sie wird eingesperrt und an eine arabische Familie verkauft – mit sechs anderen jungen Frauen. Dort leben sie unter schlimmsten Bedingungen. „Wir sind so behandelt worden, als wären wir keine Menschen“, sagt sie. Über zweieinhalb Monate sitzt sie fest.
Die Jugendliche setzt sich zur Wehr und beschließt, zu fliehen. Immer und immer wieder macht sie sich Gedanken: „Doch es war nicht einfach, wir waren sieben Mädchen und junge Frauen. Ich wollte sie nicht zurücklassen.“ Gesagt, getan! Es sollte keine einizge zurückgelassen werden, nur gemeinsam soll die Hölle verlassen werden.
„Nach zweieinhalb Monaten reiner Qual hatten wir genug.“
Sie fliehen das erste Mal und werden direkt gestellt und wieder in das Haus gebracht, in dem sie leben mussten. Dann versuchen sie es nochmal und ihr Vorhaben wird von der arabischen Familie, bei der sie leben und arbeiten mussten aufgedeckt. „Für den dritten Versuch haben wir uns dann herangetastet. Sie trauten uns nicht zu, dass wir überhaupt in der Lage wären, fliehen zu können.“
Schließlich nehmen die jungen Jesidinnen ihren ganzen Mut zusammen und starten ihren dritten Fluchtversuch: „Dieses Mal am helllichten Tag. In der Nacht war es nur umso gefährlicher und viel zu auffällig“, sagt Hakeema so, als wäre es ein Spaziergang gewesen. Die jungen Frauen verhalten sich unauffällig. Sie werden immer wieder von IS-Angehörigen angesprochen, und die Mädchen führen sie immer wieder hinters Licht. „Wir haben denen gesagt, dass wir zum nächsten Basar gehen und so ging das immer weiter.“ Schließlich und plötzlich kommen sie in einem von Kurden kontrollierten Gebiet an. „Wir haben zunächst gar nicht realisiert, wie weit wir gekommen waren. Ich habe jede Sekunde mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber wir hatten sehr viel Glück an diesem Tag. Unser Leben hing von diesem Tag ab.“
Nach tagelangen Strapazen, Todesangst und Lebensgefahr gelangen sie in die Region Kurdistan. Aber das Leben war nicht mehr was es mal war.
„Über ein Dutzend meiner engsten Familienangehörigen wurden ermordet.“ Trauer, Wut, Leere und Unverständnis machen sich in ihr breit. „Was war überhaupt passiert, fragte ich mich. Wie kann es sein, dass Menschen andere Menschen so behandeln können?“, fragt Hakeema so, als wollte sie eine Antwort darauf haben.
Doch damit ist noch lange nicht Schluss: „Wir hatten nichts mehr. Unser Zuhause war zerstört. Unsere Lieben tot. Und ich hockte mit abertausenden anderer verwaister wie ein Stück Elend in einem Flüchtlingslager in Kurdistan-Irak.“
Dennoch hört sie nicht auf zu kämpfen. Und das Glück, wenn man es denn so nennen darf, wird wieder der jungen Jesidin zuteil. „Ich habe vom Sonderkontingent aus Deutschland, Baden-Württemberg unter der Leitung von Dr. Michael Blume mitbekommen und mich kurzerhand beworben.“
Nach einigen Gesprächen und ihrer persönlichen Geschichte im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Jesiden wird sie eine von 1100 Frauen und Kindern, die mit dem Sonderkontingent in die Bundesrepublik gebracht werden.
In Baden-Württemberg bekommt sie die medizinische und psychologische Versorgung, die es im Irak nicht gibt. Die junge Jesidin erholt sich soweit wie man sich nur von Krieg und einem Völkermord nur erholen kann: „Ich lebe, mein Volk lebt, die Terroristen sind tot. Trotzdem ist das keine Genugtuung. Ich wünschte, das alles wäre nur ein schlechter Traum gewesen“, sagt sie. „Ich bin dennoch dankbar für das, was ich habe und was mir hier in Deutschland ermöglicht wurde. Ich möchte diesem Land, das meine Heimat geworden ist, soviel nur zurückgeben, was ich zurückgeben kann. Aber ich möchte auch laut und deutlich sagen: Ich habe nicht aus Spaß meine Heimat verlassen. Ich wünschte, ein Grundgesetz gebe es in der alten Heimat. Dann wäre nichts von dem passiert, was uns widerfahren ist.“