Jeder Mensch sollte die Wahrheit suchen, selbst wenn sie schmerzt. Die Türkeistämmigen in aller Welt sollten sich nicht schuldig fühlen für die Verbrechen ihrer Vorfahren, sondern Verantwortung dafür übernehmen. Sie sollten versuchen zu verstehen, dass die nationalistische Staatspropaganda, mit der sie z.T. aufgewachsen sind, nur Hass und Ausgrenzung sähen wird, rassistisch ist und kein Platz für Aussöhnung, Miteinander, freie Meinungsäußerung und Frieden lässt.

Kein Volk ist besser als das andere. Jeder sollte sich seiner Verantwortung bewusst werden, das Unrecht und den Schmerz der Unterdrückten und Ermordeten anerkennen und zu lindern suchen, insbesondere wenn man selbst Rassismus und Ausgrenzung erfahren hat.

Seit des Genozids an den ca. 1,5 Millionen osmanischen Armeniern und weiteren Minderheiten des Osmanischen Reiches wie Jesiden, Assyrer und Pontosgriechen ab 1915, also seit 109 Jahren, kämpfen die Nachkommen der Überlebenden um die Anerkennung desselben. Deutschland – oder wenn man ganz korrekt sein will, das Deutsche Kaiserreich – das erhebliche Mitschuld an der Vernichtung der Armenier und weiterer Minderheiten des Osmanischen Reiches trug (Dadrian:1996, Gottschlich:2015), benötigte über einhundert Jahre, um dieses Verbrechen als solches anzuerkennen, obwohl Historiker weltweit die Faktizität der staatlich geplanten Vernichtung des Jungtürkischen Regimes seit Jahrzehnten bestätigten (Dadrian:1995, Akçam:1999, Zürcher:1993 & 2010, Benz:2006). Als 2016 der Bundestag endlich eine Resolution dazu verabschieden sollte, liefen türkische Nationalisten in Deutschland, der Türkei und weltweit Sturm. Auch die Türkische Gemeinde Deutschlands (TGD) forderte, nach Erdogans Vorbild, eine sogenannte „Expertenkommission“, um die „Geschehnisse“ von damals aufzuarbeiten. Diese Argumentation folgt derjenigen des türkischen Staates. Absicht hierbei ist seitdem nicht mehr lediglich die Leugnung der Verbrechen gegen die Menschheit, die Raphael Lemkin im Jahre 1948 nach dem Vorbild des Genozids an den Armeniern entwarf, sondern der in vielen Fällen erfolgreiche geschichtsrevisionistische Versuch die Verbrechen zu relativieren.

Die historisch vollkommen absurde Argumentation dabei ist zu behaupten, „damals ist Krieg gewesen und es sind leider Menschen auf beiden Seiten gestorben.“ Das wäre so, als würde man sagen, „Ja, im 2.Weltkrieg sind leider Juden gestorben, aber Deutsche ja auch.“ Im Falle der Shoa würde glücklicherweise niemand so eine Behauptung stehen lassen, doch im Falle der Armenier, scheint es sich allmählich oder wiederholt als ein akzeptables Argument zu etablieren. Die TGD scheute in ihrem Statement von 2016 nicht einmal davor zurück, die Ermordung Hrant Dinks für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, indem sie ihre „Anteilnahme“ in einem Satz mit angeblicher Aussöhnung nennt. Dabei sollen laut ihnen Deutschland und Armenien daran schuld tragen, dass es keine Aufarbeitung der sogenannten Geschehnisse gibt. Eine Eigenverantwortung wird nach wie vor mit dem Argument der fehlenden Expertenkommission begründet. Hrant Dink war Armenier aus der Türkei und erhielt vor seiner Ermordung (2007) zahllose Morddrohungen, ebenso wie seine Kolleginnen, Familienmitglieder und etliche weitere Intellektuelle, die entweder bereits ermordet wurden, in türkischen Gefängnissen sitzen oder ins Exil geflohen sind. Leider hat es auch in Folge dieser antiarmenischen Proteste die Regierung der Bundesrepublik nicht vollbracht, die ultranationalistische und faschistische Ülkücü-Bewegung, hier bekannt unter der Bezeichnung „Graue Wölfe“, die sie selbst in Deutschland unter dem CSU-Vorsitzendem Strauß als antikommunistische Bewegung aufgebaut und gefördert hat, in einem Verbotsverfahren still zu legen. Im Gegenteil, die türkischen Faschisten betreiben ihre Vereine und Moscheen und können sogar öffentliche Mittel vom deutschen Staat erhalten. Man bekämpft also nur diejenigen Nationalisten, die einem selbst schaden, während man Individuen, die einer Minderheit angehören, ihrem Schicksal überlässt.

Zentrale Persönlichkeiten der Integrationsarbeit in Deutschland, die bei Veranstaltungen der Grauen Wölfe (ATDÜTDF) und deren Jugendorganisation ATIB Vorträge und/oder Workshops gehalten haben, vermeiden bis heute das Wort Genozid, das für eine ehrliche Anerkennung und umfängliche Aufarbeitung und Versöhnung zentral und unverzichtbar ist. Sie erhalten Preise und Auszeichnungen für ihre Integrationsarbeit und leugnen weiterhin, gleich wie viele renommierte Historiker über Jahrzehnte dargestellt und bewiesen haben, wie die Vernichtungsmaschine vom jungtürkischen Triumvirat (Taalat, Enver und Cemal), geplant und in Gang gesetzt wurde, dass es sich 1915 um einen Völkermord gehandelt hat. Nur wenn Protest eingereicht wird und dieser Lautstark genug ist, schaut man hin, wem man eigentlich eine Auszeichnung verliehen hat. Man benötigt ja Partner in der Integrationsarbeit und drückt dann gerne ein oder auch beide Augen zu. Es geht zwar darum, pluralistische und demokratische Werte zu fördern, doch hoffentlich merkt dabei keiner, welche rassistischen und antipluralistischen Werte die auserwählten Partner eigentlich vertreten. Doch selbst wenn es nicht mehr wegzudiskutieren ist, wählt man sie als potentielle Partner.

Für die Nachkommen der Überlebenden bleibt die Leugnung und Verharmlosung ein stechender und unüberwindbarer Schmerz, da sie Retraumatisierungen auslöst und ein mehr oder minder umfängliches Verarbeiten gänzlich unmöglich macht. Doch die türkische Gemeinde in Deutschland und die geostrategische Bedeutung der Türkei scheint im Gegensatz zum armenischen Volk für einige in der deutschen Politik zu wichtig zu sein, um sich ernsthaft und auf allen Ebenen für ein „Nie wieder!“ bei diesem Genozid einzusetzen. Minderheiten, Völker und Menschen ohne Macht haben nach wie vor in diesem Land, das sich mit dem Wort Menschenrechte und Toleranz nur zu gern schmückt, wenig Platz. Sie werden, wie an einer kürzlichen Kampagne der Regierung Aserbaidschans zu sehen war, nicht geschützt. In dieser drohte die Botschaft Aserbaidschans der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), die von ihr geplante Veranstaltung durch Proteste zu sprengen, wenn nötig gewaltsam. Die DGAP-Veranstaltung handelte von der staatlich organisierten und durchgeführten Vernichtung armenischen Kulturgutes (Kirchen, Klöster, Friedhöfe, Schulen) in Arzach, hier bekannt unter Bergkarabach oder Nagorno-Karabach. Die DGAP entschied sich, nachdem deutsche Sicherheitsbehörden die Sicherheit der Teilnehmenden nicht garantieren konnten (oder wollten?), die Veranstaltung ausschließlich in den digitalen Raum zu verlegen. In einem Vortrag Prof. Adam Smiths von der Cornell University innerhalb der Veranstaltung, wurde über Satellitenbilder eindeutig dargelegt, wie der aserbaidschanische Staat in Folge der ethnischen Säuberungen dieses Territoriums 2023,  jeglichen Beweis armenischen Lebens in diesem Gebiet zu tilgen versucht und dies auch erfolgreich tut. Den Schmerz der Vertriebenen, die nun damit leben müssen, dass die Gräber ihrer zurückgelassenen Angehörigen vollends vernichtet werden, ist neben dem Verlust ihrer Heimat kaum zu beschreiben. Die Türkei hat nach der Vernichtung der Armenier das gleiche getan. Armenische Kirchen, Grabstätten, Häuser und andere Bauten, die die Region Mittel-, Ost- und Südostanatoliens nahezu 2000 Jahre geprägt hatten, wurde über die Jahrzehnte erfolgreich getilgt. Sie sind weit gekommen, aber es blieben welche erhalten (Akhtamar und die Propaganda dazu). Aserbaidschan tut nun, nachdem es in einem Blitzkrieg im September 2020 ca. 5.000 armenische Soldaten getötet, jegliches Kriegsrecht und die Genfer Konventionen verletzte und letztes Jahr rund 120k Arzach-Armenier vertrieb, dasselbe.

Immer und immer wieder befindet sich dieses dezimierte und kleine Volk von ca. 3 Millionen Armeniern in dem Bedrohungsszenario, vertrieben und weiter dezimiert zu werden, möglicherweise bis zu dem Punkt, an dem sie sich alle in der Diaspora wiederfinden werden, sofern sie die Vertreibungen überleben. Kaum jemand hier weiß, dass Aserbaidschan, ermutigt von der Türkei, bereits armenisches Kernland angegriffen hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis erneut Gebiete Armeniens in aserbaidschanischem oder türkischem Territorium verschwinden und das kleine Land im Kaukasus weiter und weiter schrumpft. Armenien befindet sich in einer Lose-lose-Situation und wie bereits vor über 100 Jahren, wird kaum ein Staat, der angeblich Menschenrechte vertritt, diesem geschundenen und dezimierten Volk helfen zu überleben.

Wir können nur hoffen, dass wir kein zweites oder nun drittes Mal Vertreibung, ethnische Säuberung und Genozid erleben müssen. Doch da in diesem Fall niemand „Nie wieder!“ sagt, sind die Aussichten düster, bis die Weltgemeinschaft nach fortschreitender Relativierung und unwidersprochener Geschichtsrevision vergessen haben wird, dass es jemals Armenier gab.

Wie damals viele wegschauten, schauen auch heute wieder viele nicht hin, wenn vor aller Augen Verbrechen gegen die Menschheit begangen werden. Doch wie auch im Falle der Armenier, werden die Geschehnisse und Tatsachen von Historikern aufgearbeitet werden, wird dokumentiert werden, mit welchen Mitteln und welcher Gewalt gegen Zivilbevölkerung vorgegangen wird. Im Falle der Armenier haben die Jungtürken und ihre Nachfolger versucht, Beweise zu vernichten. Sie sind weit gekommen, aber es blieben Beweise erhalten. Im jetzigen Vernichtungsfeldzug werden auch wieder Beweise bleiben, viele mehr als noch vor über 100 Jahren. Und wenn auch die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, werden wir nie vergessen.

 

Dr. Yunus Yaldiz studierte Islamwissenschaft, Philosophie und Neuere deutsche Philologie an der FU-Berlin und TU-Berlin und promovierte in Utrecht zum frühen Islam.