Agatha Christie ist jedem Kind als Ikone der Weltliteratur ein Begriff, ihre Kriminalromane, Kurzgeschichten und Reiseerzählungen aus dem Orient haben sie zur Koryphäe im Schrifttum emporgehoben: mit einer Gesamtauflage ihrer Werke von über zwei Milliarden gehört sie zu den erfolgreichsten Autorinnen und Autoren der Weltgeschichte. Was aber die wenigsten von uns wissen, ist, dass Agatha Christie im höchsten Heiligtum der Jesiden, in Lalisch, zu Besuch war – und sich unsterblich in das heilige Tal verliebt hat.

Sie berichtet in ihrem Buch Erinnerung an glückliche Tage (engl. Come, Tell Me How You Live) von ihrer Reise und den archäologischen Ausgrabungen Ende der 1930er Jahre mit ihrem Ehemann Sir Max Mallowan durch Syrien und den Irak. Darin beschreibt sie ausführlich ihr Empfinden über Lalisch und die Jesiden, die sie angetroffen hat.

Sobald die Fremden aus Djerablous mit der Arbeit angefangen haben, drängen sich die Einheimischen um Anstellung. Die Männer des Scheichs sind schon da, nun treffen allein oder zu zweit die Leute aus den Nachbardörfern ein, Kurden von jenseits der türkischen Grenze, viele Armenier und ein paar Jeziden, als »Teufelsanbeter« bekannt , die mit ihrer freundlichen Melancholie die anderen zu Quälereien herausfordern. (S. 85)

Sie reißt die Konflikte und Vorurteile entlang konfessioneller und ethnischer Trennlinien an, die Schikanierung jesidischer Angestellter und die Stigmatisierung als Anbeter des Bösen thematisiert sie ebenso. Dabei orientiert sich Agatha Christie an den Aussagen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung und macht sich ihre eigenen Gedanken zu den Hintergründen dieser Vorurteile. Im Folgenden Auszüge aus den Seiten 112 bis 114:

»Ein jezidischer Arbeiter beklagte sich, daß er vor Durst beinahe umkommt. Wenn er kein Wasser erhält, kann er nicht weiterarbeiten. »Aber hier ist doch Wasser, warum trinkst du es nicht?« Dieses Wasser darf ich nicht trinken, es stammt aus dem Brunnen, in den der Sohn des Scheichs heute morgen Salat geworfen hat.» Den Jeziden verbietet nämlich ihre Religion, Salat zu erwähnen oder etwas anzufassen, was damit in Berührung gekommen ist […]. Max erwidert: »Dir wird man ganz gewiß Lügen erzählt haben. Heute morgen habe ich den Sohn des Scheichs in Qamichliye getroffen und er hat mir gesagt, daß er schon seit zwei Tagen dort ist. Man wollte dich nur reinlegen.« Wir rufen eine Arbeiterversammlung ein zwecks Verwarnung: Niemand darf die jezidischen Kollegen anlügen oder wegen ihres Glaubens verfolgen. »Bei dieser Ausgrabung sind alle Brüder!« Mit fröhlichem Augenzwinkern tritt ein Mohammedaner vor. »Sie glauben an Christus, Khwaja, und wir an Mohammed, doch beide sind wir gegen den Teufel. Darum ist es unsere Pflicht, jene zu verfolgen, die an den Satan glauben, ihn anbeten und seine Herrschaft wünschen.« »Dann kostet dich deine Pflichterfüllung künftig jedesmal fünf Francs«, entgegnet Max. Ein paar Tage lang beschwert sich kein Jezide mehr bei uns. Ihr Heiligtum, die Grabstätte von Scheich ‘Adi, liegt in den kurdischen Bergen bei Mosul und als wir dort in der Nähe gruben, haben wir es besucht. Ich glaube, kein Ort der Welt besitzt solche Schönheit und solchen Frieden. In vielen Windungen steigt man einem Bach entlang durch Eichenwäldchen und an Granatapfelbäumen vorbei hoch in die Berge. Die Luft ist frisch und klar und rein. Die letzten Kilometer müssen zu Pferd oder zu Fuß zurückgelegt werden. Und so unschuldig ist dort der Mensch, daß die christlichen Frauen nackt in den Bächen baden können. Plötzlich steht man vor den weißen Türmen des Heiligtums. Hier ist alles ruhig, sanft und friedlich. Es gibt Bäume, einen Hof, fließendes Wasser. Mit freundlichem Gesicht servieren Wächter Erfrischungen, und in vollkommener Stille sitzt man da und trinkt Tee. Im Innenhof befindet sich der Eingang zum Tempel, auf dessen rechter Seite eine geschnitzte schwarze Riesenschlange zu sehen ist. Die Schlange ist ein heiliges Tier, denn als die Arche Noah nach jezidischem Glauben auf dem Gebirge Sindschar strandete, rollte sich die Schlange zusammen, um das entstandene Loch zu stopfen. So konnte die Arche wieder weiterschwimmen. Wir zogen dort unsere Schuhe aus und wurden in den Tempel geführt, wobei wir vorsichtig über die Schwelle stiegen, da man nie auf eine Schwelle treten darf. Man darf auch nicht seine Schuhsohlen zeigen — so ist das Sitzen auf dem Boden mit gekreuzten Beinen kein geringes Kunststück. Das Innere ist dunkel und kühl und man hört Wasser rieseln aus der Heiligen Quelle, die in den Tiefen bis hin nach Mekka reichen soll [In der jesidischen und islamischen Glaubensvorstellung waren Hager, die Frau von Abraham mit dem gemeinsamen ersten Sohn Ismail in der Wüste erschöpft und dem Verdursten nahe, ängstlich soll Hager hin und her gelaufen sein, als Gott zu den Füßen Ismails eine Wasserquelle entspringen ließ. Die Menschen siedelten sich an der neuen Wasserquelle an und erbauten die Stadt Mekka um die die Zemzem-Quelle, Anm. d. Red.]. An hohen Festtagen wird in diesen Tempel der Kandelaber mit der Figur eines Pfauen gebracht. Wir traten aus dem Tempel und saßen noch in der stillen, friedvollen Kühle — keiner von uns beiden mochte von diesem Heiligtum in den Bergen herabsteigen in das Gewühl der Welt. Die Grabstätte von Scheich ‘Adi werde ich nie vergessen, auch nicht jenen vollkommenen, wunschlosen Frieden, der mich dort erfüllte. Das Oberhaupt der Jeziden, der Mir, besichtigte einmal unsere Ausgrabung im Irak. Es war ein großer Mann mit traurigem Gesicht, ganz in Schwarz gekleidet, der sowohl die geistliche wie auch die weltliche Autorität verkörperte. Freilich wußten Gerüchte, daß gerade dieser Mir vollständig von seiner Tante beherrscht wurde, der »Khatün von Scheich ‘Adis Grabstätte«, sowie von seiner Mutter, einer schönen und ehrgeizigen Frau […]. Auf einer Reise durch das Sindschargebirge besuchten wir auch den Jeziden-Scheich jener Gegend, Hämo Schero, einen Greis von neunzig Jahren, wie man uns erzählte. Während des Krieges von 1914 flüchteten Hunderte von Armeniern vor den Türken hierher, wo ihnen Schutz und Sicherheit gewährt wurde.

Aufgrund der seit hunderten von Jahren anhaltenden Missverständnis der jesidischen Mythologie bezüglich ihrer Auffassung von Gut und Böse, von Hölle und Paradies und der damit einhergehenden Diffamierung der Jesiden als Teufelsanbeter – welches bis heute noch anhält – wurden und werden sie von ihren Nachbarn immer wieder angegriffen und schikaniert. Diese Diffamierung diente insbesondere der Legitimation für Genozide und Verschleppung von Jesidinnen, wie zuletzt durch die Gräueltaten des IS im Irak. Die von der Versklavung der jesidischen Frauen bis hin zur Enthauptung der Männer die Welt in Schrecken versetze.