In dieser kurzen Abhandlung wird die irreführende Behauptung diskutiert, dass Jesiden Muslime seien, wie es auf einigen Plattformen wie der Webseite der Bundeszentrale für Politische Bildung und in Wikipedia behauptet wird. Diese falsche Zuordnung hat ihren Ursprung vor allem in eurozentrischen und muslimischen Betrachtungen des Sufismus.
von Sarkis Agojan
Die Mystik ist ursprünglich ein Bereich des verborgenen Wissens, der in seinen Anfängen sowohl gesellschaftsübergreifend als auch strukturlos war. Ab dem 8. Jahrhundert entwickelten sich jedoch mystische Bewegungen zu eigenständigen Ordensgemeinschaften mit Geheimlehren. Einige dieser Lehren wurden auf unterschiedliche Weisen in bestehende religiöse Strömungen integriert. Die jüdische Mystik wird beispielsweise Kabbala genannt, die christliche Mystik erfährt ihre Abgrenzung durch die Anerkennung der Unio mystica. Die Gründung des Adawiyya-Ordens durch den Mystiker Sheikh Adi ibn Musafir im 12. Jahrhundert markierte einen entscheidenden Moment in der jesidischen Geschichte und leitete eine Phase der Genese ein. Die sich daraufhin entwickelnden Dynamiken waren stark von sozio-ökonomischen Prozessen geprägt und wirkten sich normativ und konstituierend auf die Jesiden aus.
Der Begriff “Mystik” leitet sich aus dem altgriechischen Wort “mystikós” ab und bedeutet geheimnisvoll. In der Religionswissenschaft und Theologie bezeichnet er verschiedene Narrative zur Wahrnehmung einer göttlichen oder absoluten Wirklichkeit sowie die Anstrengung, solch eine Wahrnehmung zu erreichen. Im Nahen Osten wurden alte mystische Traditionen in gnostischen Strömungen zusammengefasst. Die Gnostiker waren eine gesellschaftsübergreifende Bewegung der Intellektuellen, die eine uralte Mystik bewahrten und aufgrund ihrer Anschauungen von radikalen Kräften verfolgt wurden. Sie praktizierten ihren Glauben im Verborgenen und verfassten keine Schriften aufgrund fortwährender Verfolgung.
Aus der Gnostik heraus entwickelten sich Bewegungen, die sich mit Wissenschaft, Heilkunst, Weissagungen, Poesie und insbesondere mit der Frage nach Gott und seiner spirituellen Präsenz im eigenen Körper beschäftigten. Im Judentum wird diese mystische Bewegung als “Kabbala” bezeichnet, im Islam ist sie als “Sufismus” bekannt. Die jüdische Mystik innerhalb der Kabbala geht von einer weiblichen Manifestation Gottes aus und strebt nach einer Vereinigung der Menschen mit dem Schöpfer. Die christliche Mystik hat keine religionswissenschaftlich abgegrenzte Kategorie für innerreligiöse mystische Strömungen. Als Minimalbestimmung christlicher Mystik wird die Überzeugung der Gläubigen an der Einheit des Menschen mit Gott herangezogen. Theologen bezeichnen die Einheit von Schöpfung und Schöpfer im Christentum als “unio mystica” – “mystische Hochzeit”.
Im Jesidentum gibt es keine innerreligiöse Abgrenzung oder Bezeichnung, die eine eigenständige Geheimlehre innerhalb der Religionsgemeinschaft definiert. Die gesamte Religionslehre der Jesiden ist mystisch und erfährt keine klaren inneren Grenzen, auch weil es keine Sonderströmungen des Jesidentums gibt. Im Folgenden wird insbesondere auf die jesidische, alevitische und sufistische Mystik eingegangen, da sie die größten strukturellen und religionsphilosophischen Ähnlichkeiten aufweisen.
Religionsübergreifende Praktiken der Mystiker umfassen gemeinschaftliche Trancetänze unter dem Einfluss spiritueller Lieder. Dieses Element der mystischen Aufführung ist Teil der Ordentradition und wird beispielsweise von Aleviten, Sufisten und Jesiden als “Samāʿ” bezeichnet. Im Jesidentum wird die “Samāʿ”-Zeremonie während der siebentägigen Festlichkeiten zu Ehren des Heiligen Sheikh Adi durchgeführt. Die Aleviten praktizieren ihre Form des “Samāʿ” bei ihren regelmäßigen Cem-Versammlungen. Dabei geraten die Gläubigen durch leidenschaftliche Hingabe und tiefe Ekstase in einen tranceähnlichen Zustand.
Im spirituellen Leben der Mystiker spielen asketische Praktiken eine wichtige Rolle. Askese bezeichnet die absolute Selbstbeherrschung des Körpers und insbesondere des Geistes. Das Lebensziel eines Asketen besteht darin, eine spirituelle Nähe zu Gott zu erreichen, sich mit dem Schöpfer auf ein höheres geistiges Niveau einzustimmen und letztendlich mit der ewigen Singularität zu verschmelzen. Dies erfolgt durch die Aufgabe weltlicher Annehmlichkeiten, lange Fastenzeiten und das Streben nach moralischer Vollkommenheit. Die Einhaltung aller Regeln und Gebote der Ordensgemeinschaft, einschließlich Gebetszeiten und Heiratsregeln, ist Pflicht.
In der Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts praktizierten die ersten jesidischen Asketen eine bemerkenswerte Askese, einschließlich des Verzichts auf Eheschließung, da sie Ehe als mit weltlichen Belangen verbunden ansahen. Ihr Lebenssinn lag in der geistigen Entmaterialisierung und der Abwendung von weltlichen Dingen. Die Methoden der Mystiker sind vielfältig und reichen von einfacher Religiosität bis zu extremen Formen der Selbstgeißelung.
Der Sufismus wird gegenwärtig oft als Synonym für die mystische Strömung innerhalb des Islam verwendet. Eine Schlüsselfigur in dieser Entwicklung war der persische Gelehrte und Theologe Al-Ghazali, der im 11. Jahrhundert lebte. Al-Ghazali betonte die Bedeutung des spirituellen Weges und verteidigte die Praktiken des Sufismus in seinen Schriften. Dadurch trug er dazu bei, den Sufismus als eine legitime und wichtige Strömung innerhalb des Islam zu etablieren. Der Sufismus betont die Suche nach einer persönlichen Verbindung zu Gott durch mystische Erfahrungen und spirituelle Praktiken wie Meditation, Gebet und Dhikr.
In der wissenschaftlichen Diskussion werden bisweilen jesidische Mystiker als Sufisten oder islamische Mystiker eingestuft, wobei diese Klassifikationen auf den etablierten Definitionen der Islamwissenschaften beruhen und nicht unbedingt eine eigenständige jesidische Konzeption berücksichtigen.
Jesidische Mystik unterscheidet sich von der islamischen Mystik in einigen Aspekten, insbesondere darin, dass jesidische Mystiker die Annahme der Scharia ablehnen und stattdessen nur Haqīqa (Mystische Wahrheit), Tarīqa (Mystischer Weg) und Maʿrifa (Mystische Erkenntnis) akzeptieren. Die Behauptung, dass Jesiden Muslime seien, fußt auf historischen Missverständnissen und auf dem Versuch einiger, die jesidische Religion zu delegitimieren, um die Dominanz der islamischen Religionsstrukturen zu unterstreichen. Diese Ansichten stützen sich hauptsächlich auf Berichte von islamischen Historikern, die Sheikh Adi als gläubigen Muslim darstellten, um die Bedeutung des Mystikers Sheikh Adi für ihre eigene Gemeinschaft zu betonen, obwohl der Ursprung dieser Annahmen im Zusammenhang mit vier arabischen Qasidas weitgehend unbekannt ist.
Im jesidischen Verständnis ist die jesidische Mystik außerhalb des Sufismus und der islamischen Mystik angesiedelt. Im sakralen Text “Qewlê Zebûnî Meksûr” wird die Scharia sogar als Synonym für Ungerechtigkeit verwendet, was die historischen Erfahrungen der Jesiden mit den Anhängern des orthodoxen Islam widerspiegelt. In diesem Text schuf Gott wesentliche Elemente der jesidischen Religionsordnung, bekannt als Hed û Sed, und trennte sie von der islamischen Gesetzgebung. Die Scharia wird in diesem Kontext als etwas Ungerechtes angesehen.
Die Tradition des Ordens Sheikh Adi entwickelte sich unter seinen Nachfolgern weiter und wurde zu einer religiösen Bewegung mit endogamem Verhalten. Dieser Entwicklungsprozess war eine Reaktion auf den Druck von muslimischen Nachbarn und führte zu einer ethnogenetischen Entwicklung der Ordensanhänger. In den darauf folgenden Jahrhunderten, von 12. bis 14. Jahrhundert, erfolgte eine emanzipatorische Transformation der Ordensstruktur und der Religionslehre. In diesem Prozess nahm die Ordensgemeinschaft ethnische Merkmale an. Diese einzigartige Verschmelzung von Heiligenverehrung, entwickelter Mythologie und der Verschmelzung mit Anhängern verschiedener Sprachen bildete die Grundlage für das einzigartige ethnische Verständnis der Jesiden, das bis heute anhält.
In Übereinstimmung mit der Logik, die im vorliegenden Text der Bundeszentrale für politische Bildung vorgelegt wird, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Muslime folglich als eine Variante des Christentums betrachtet werden müssten. Ebenso sollten die Christen selbst nach dieser Argumentation als eine Abzweigung des Judentums angesehen werden, um die Analogie konsequent zu wahren. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Religionen stets synkretische Elemente enthalten und somit eine einseitige Betonung des synkretischen Charakters des Jesidentums nicht alle Facetten dieses komplexen Glaubenssystems angemessen einfängt.
Es ist von essenzieller Bedeutung, herauszustellen, dass im 13. Jahrhundert die Jesiden eine eigenständige religiöse Doktrin entwickelten. Dieser Prozess ging einher mit der Ausarbeitung heiliger Texte, der Etablierung spezifischer Rituale, der Schaffung einer elaborierten sozialen Organisationsstruktur und letztendlich der Festigung einer unabhängigen Religionsgemeinschaft. Im Kern des jesidischen Glaubenssystems stehen die sogenannten “Qewls” als zentrale heilige Texte. Dabei werden der Quran, die Bibel und die Tora nicht als konstitutive Bestandteile dieses jesidischen Glaubenssystems betrachtet.
Wir hoffen, dass diese kurze, aber stichhaltige Abhandlung unseres Theologen Agojan Licht ins Dunkel bringt und fordern die Bundeszentrale für politische Bildung auf, ihren irreführenden Artikel zu korrigieren.
Der Autor Sarkis Agojan emigrierte 2003 nach Deutschland und absolvierte sein Studium der Jesidischen Theologie an der International Yezidi-Theological Academy in Georgien. Er engagiert sich aktiv bei der Stelle für Jesidische Angelegenheiten e.V. und setzt sich für die Rechte und Belange der Jesiden ein.