Im Jahre 1948 schrieb George Orwell in seinem dystopischen Meisterwerk „1984“: „First they steal the words, then they steal the meaning“. Zu Deutsch „Zuerst stehlen sie die Worte dann rauben sie ihre Bedeutung“.

Als vor einigen Tagen ein Video des kurdischen Nationalsängers Şivan Perwer (bürgerlicher Name Ismail Aygün) in den sozialen Netzwerken die Runde machte, in dem er die ethno-religiöse Volksgruppe der Jesiden wieder einmal rassistisch beleidigte, diffamierte und erniedrigte, ließen weltweit die Reaktionen der Jesiden nicht lange auf sich warten.

Ein Kommentar von Sedat Özgen,
Deutsch-Jesidischer Künstler und Aktivist

Entsetzen, Unglauben, Schock und vor allem Wut wurden auf allen sozialen Medien dem kurdischen Sänger entgegengebracht.

Nachdem Ismail Aygün bereits im Frühjahr 2020 die jesidische Religion als faschistisch abstempelte und sich einige Zeit später entschuldigte, folgte auch hierauf eine zweite Reaktion von ihm selbst. Aber von Reue oder gar einer Entschuldigung keine Spur.

In dem seit Dezember 2021 in den sozialen Netzwerken kursierenden 25 Minuten langen Video legt Aygün sogar nach. Diesmal bezichtigt er die Jesiden und vor allem ihre Würdenträger und zentrale Persönlichkeiten des jesidischen Glaubens wie Scheich Adî, daran Schuld zu tragen, dass es keine Einheit unter den Kurden gäbe. Er holt weiter aus und zählt Philosophen, Autoren und Persönlichkeiten wie Karl Marx, Martin Luther, Spinoza und Hegel auf und wirft den Jesiden indirekt vor, ein ungebildetes Volk zu sein, das mehr lesen solle. Nur so könne sich das jesidische Volk von seinen Traditionen lösen.

Schlussendlich gipfeln seine Aussagen darin, dass es zwar seitens der Kurden Genozide an den Jesiden gab, wischt diese aber mit einer abfälligen Handgeste zur Seite. Mehr kommt nicht.

Auch die Flucht der kurdischen Peschmerga (dt. „Jene, die dem Tod ins Auge blicken“) am 03.08.2014 aus dem nordirakischen Shingal relativiert er als „taktischen Rückzug“. Aber erst dieser „taktische Rückzug“ führte dazu, dass Tausende Jesiden durch den Islamischen Staat getötet, weitere Tausende entführt und versklavt und Hunderttausende fliehen mussten.

Wie stehen solche Aussagen seinerseits mit dem Eingangszitats Orwells in Relation?

Agitatoren, Hassprediger und Populisten sind oft dafür bekannt, Meister der Rhetorik zu sein. Sie sind in der Lage, Menschen die Wahrheit anzuzweifeln zu lassen und das Gesehene und Erlebte infrage zu stellen. Sie schaffen es, Täter zu Opfern und Opfer in den Augen der Öffentlichkeit zu Tätern zu machen.

Berthold Brecht sagte einst in „Das Leben des Galilei“: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher“.

Mit seinen Aussagen über die Jesiden macht Perwer sich dieser Tat schuldig. Er verdreht historische Tatsachen und versucht, die Jesiden und das Jesidentum als Sündenböcke für die Nichtexistenz eines kurdischen Staates und einer fehlenden Einheit unter den Kurden schuldig zu machen. Er bedient sich dabei einer widerlichen Rhetorik und greift bewusst und exemplarisch lediglich die geistlichen und weltlichen Repräsentanten der Jesiden an. Was Nicht-Jesiden hierbei nicht erkennen, ist, dass das ein gezielter Angriff auf das gesamte Jesidentum und die gesamte Gesellschaft ist. Das ist geradezu absurd und paradox, da es genau diese Persönlichkeiten sind, die seit je her versuchen, die jesidische und kurdische Gesellschaft zu versöhnen und einen Dialog zwischen diesen zwei Volksgruppen aufzubauen.

Mit keinem Wort erwähnt er die politischen Überwürfnisse der kurdischen Parteien, die in der Vergangenheit immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen geführt haben und Tausenden Kurden das Leben gekostet haben. Paradoxerweise wurden sogar Allianzen zwischen kurdischen Gruppierungen und Saddam Hussein geschmiedet, obwohl dieser nur wenige Jahre zuvor Tausende Kurden in Halabja vergaste.

Mit keinem Wort spricht Perwer davon, dass bis heute in der kurdischen Gesellschaft Persönlichkeiten wie Yezdan Şêr Beg, Bedirxan Botan oder Muhemed Rewandûzî als Helden besungen und verehrt werden – auch von ihm selbst. Und das trotz der Tatsache, dass alle diese Personen für Verfolgung, Versklavung, Ermordung und Vernichtung der Jesiden in vielen Landstrichen in Südostanatolien und des Iraks verantwortlich sind.

Nirgends werden die Fatwas sunnitisch-kurdischer Prediger gegen Jesiden und Christen in der Region Kurdistan erwähnt.

Diese unreflektierte Denkweise vertieft der kurdische Sänger mit der Behauptung, dass sich 10 000 kurdische Peschmerga, die sich am 03.08.2014 dazu entschlossen, dem Tod nicht ins Auge blicken zu wollen, sich zurückzogen, weil ihre Waffen denen der 500 angreifenden IS-Terroristen nicht hätten standhalten können. Dabei vergisst er, dass jesidische Widerstandskämpfer mit leichten Waffen und ohne militärische Ausbildung dem IS sogar tage- und wochenlang Widerstand leisten konnten. Und am Heiligtum Sherfedin ist der Islamische Staat den Jesiden nie gewachsen gewesen. Dieser Widerstand hat womöglich weitere zig Tausenden Menschen das Leben gerettet. Was alles noch hätte verhindert werden können, wenn die kurdischen Peschmerga sich dem IS gestellt hätten, werden wir wohl niemals herausfinden, da sie die Jesiden schlichtweg im Stich gelassen haben. Eine Aufklärung diesen „taktischen Rückzugs“ der kurdischen Milizen scheint für den kurdischen Sänger nicht von Signifikanz zu sein. Dass bis zum heutigen Tag keiner der Befehlshaber rechtlich zur Verantwortung gezogen wurde, scheint für Perwer irrelevant zu sein.

Genauso wenig Aufmerksamkeit schenkt Aygün den immer weiter steigenden Zahlen von „Ehrenmorden“ und Verbrechen in der Region Kurdistan, die geradezu epidemische Ausmaße annehmen. Stattdessen fixiert er sich auf ein grausames Verbrechen, das sich 2007 in Baschiqa/Bahzan abspielte: damals steinigte eine jesidische Familie ihre Tochter zu Tode, weil diese sich angeblich auf eine Beziehung mit einem kurdischen Mann einließ.

Diese Grausame Tat wurde nicht nur von den Jesiden im Irak, sondern auch von denen in Deutschland und allen jesidischen Organisationen aufs schärfste verurteilt. Professor Philipp Kreyenbroek, seines Zeichens Professor für Iranistik, bezeichnete diese Tat als atypisch für die Jesiden und attestierte als Forscher, der sich seit Jahrzehnten mit der Volksgruppe der Jesiden auseinandersetzt, dass es sich hierbei um ein schreckliches, einmaliges Ereignis handele, das sich so zuvor und so seitdem nie wiederholt hat.

Nichtsdestotrotz müssen auch die Jesiden sich eingestehen, dass Gewalt im Namen der Ehre in der jesidischen Gesellschaft vorgekommen ist und dieses Phänomen mit absoluter Vehemenz bekämpft werden muss. Es gibt für solche Taten im jesidischen Weltbild schlichtweg keine Legitimation.

Wie sind nun Perwers Aussagen zu beurteilen? Was will diese Stimme der Kurden, als welche Ismail Aygün seit Jahrzehnten in der kurdischen Gesellschaft gilt, sagen?

Indirekt scheint Perwer die Arbeit der kurdischen Fürsten vollenden und die jesidische Religion endgültig vernichten zu wollen. Zwar nicht mit Schwert und Feuer, aber diesmal indem er die Jesiden, die noch immer mit dem Trauma des Genozids von 2014 zu kämpfen haben, unter Druck setzt und sie in der kurdischen Gesellschaft zur Zielscheibe verbaler und möglicher physischer Übergriffe macht.

Nachdem kurdische Parteien, Politiker und Führer mit Verfälschungsversuchen der jesidischen Geschichte, Theologie, Glaubenstexten und pseudowissenschaftlichen Theorien gescheitert sind, scheint die Geduld der kurdischen Nationalisten endgültig am Ende zu sein. Perwer bringt dies mit seinen Monologen, die auf viel Wohlwollen innerhalb der kurdischen Gesellschaft treffen, eindrucksvoll zum Ausdruck.

Es scheint so, als wolle man den Jesiden eine Pistole auf den bereits geschändeten und gebrochenen Leib setzen und zu verstehen geben, dass sie sich entweder von ihrer jesidischen Identität gänzlich abwenden sollen oder sie dafür bereit sein müssen, die Konsequenzen zu tragen. Dies wird durch das Schweigen kurdischer Politiker, Medien, Künstler und der Zivilgesellschaft noch einmal verstärkt. Ähnlich wie bei seinem Auftritt vor versammeltem Publikum, vor dem er die Jesiden diffamiert und kein Widerspruch ertönt. Die stillschweigende Zustimmung der kurdischen Bevölkerung und insbesondere diverser kurdischen Parteien führen sogar dazu, dass Aygün in seinen Aussagen bestärkt wird.

Ähnlich wie in Orwells Alptraumvorstellung der Zukunft „1984“ scheint Perwer den Jesiden zu verstehen zu geben, dass sie im Fokus seiner Aufmerksamkeit stehen und er keinen Zentimeter vom Gesagten abweichen wird. Ganz nach dem Motto „Big Brother is watching you“ glaubt der kurdische Sänger, absolute Handlungsfreiheit zu haben.

Doch soll sich auch die kurdische Gesellschaft darüber im Klaren sein, dass nicht nur die Jesiden sie ganz genau beobachten.

Martin Luther King Jr. sagte einst: „Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde.“ Auch das jesidische Volk lernt nun zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.