In den letzten Jahren hat sich die Zahl ethnischer und religiöser Volksgruppen wie Jesid_innen, Alevit_innen, Assyrer_innen/Aramäer_innen und Kurd_innen, die bei uns in Deutschland Zuflucht gefunden haben, vervielfacht. Kriegs- und Bürgerkriegszustände, Terror sowie religiöse und ethnische Verfolgung mündeten in Entmenschlichung, Entwurzelung und viele Traumata. Doch in Deutschland angekommen geht oftmals die Odyssee weiter. Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Ausgrenzung prägen das Leben dieser Communitys hierzulande. Dementsprechend ist das eingeschränkte Sicherheitsgefühl der Betroffenen, weil sie in vielen Lebenslagen eingeschnitten und benachteiligt sind. Es überrascht nicht, dass sich Mitglieder dieser Gruppen mit den Themen der Mehrfachdiskriminierung intensiv auseinandersetzen. Denn sowohl ihr Privatleben sowie Berufsleben und vor allem ihr ehrenamtliches Engagement sind davon in besonderer Weise gekennzeichnet. Nicht selten wird irrtümlicherweise davon berichtet, dass die intersektionale Diskriminierung von diesen Gruppen salonfähiger geworden ist und einen Zuwachs erlebt. Betrachtet man diese Thematik jedoch genauer und tiefgründiger, kommt man zu der bitteren Erkenntnis, dass sich an dem Zustand kaum etwas geändert hat, außer dass er durch eine globalisierte und medial vernetzte Welt lediglich sichtbarer geworden ist.

Die Mehrfachdiskriminierung wurde für die Betroffenen – um es vorsichtig auszudrücken – nur „facettenreicher“

Schon immer waren diese ethnisch-religiösen Gruppen einer enormen Verfolgung, Vertreibung und Mehrfachdiskriminierung durch ihre ihnen feindlich gesinnte Umwelt ausgesetzt. An diesem Zustand hat sich mit der Flucht in das vermeintlich sichere Deutschland kaum etwas gebessert. Nein! Die Mehrfachdiskriminierung wurde für die Betroffenen – um es vorsichtig auszudrücken – nur „facettenreicher“. Während man am Beispiel der oben genannten marginalisierten Gruppen wie Jesid_innen, Assyrer_innen und Alevit_innen in den traditionellen Siedlungsgebieten z.B. von einer mehrheitlichen Diskriminierung durch die muslimische Gesellschaft gesprochen hat, spricht man hier bei uns in Deutschland sowohl von Diskriminierung innerhalb der Migrationsgesellschaft als auch antimuslimischem Rassismus, da diese Gruppen oft als „muslimisch gelesene Menschen“ definiert werden. Doch lösen nicht selten Begrifflichkeiten und Zuschreibungen wie „muslimisch gelesene Menschen“ bei diesen marginalisierten Gruppen zusätzlich eine noch intensivere Form der Diskriminierung aus, weil sie in Kategorien gesteckt werden, die für sie häufig mit traumatischen Erfahrungen verbunden sind.

Ein Beispiel, das diese Situation besonders verdeutlicht, ist die Arbeit in Jugendverbandsstrukturen und die fehlende strukturelle Förderung für Communitys, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. So werden fehlende Förderungen für Jesid_innen und andere Gruppen nicht selten damit begründet, dass ihre Förderung über den Förderungsbereich „antimuslimischer Rassismus“ gedeckt sei oder Jesid_innen aufgrund der diskriminierenden Erfahrungen als „muslimisch gelesene Personen“ ihren Anspruch auf diese Fördermöglichkeiten geltend machen können. Die bittere Realität zeigt jedoch, dass Jesid_innen oder andere ethnisch-religiöse Gruppen stärker von Diskriminierung durch die muslimische Gesellschaft als vom antimuslimischen Rassismus betroffen sind. Daher fällt dieser Förderungsbereich sehr schnell weg, weil zum einen eine negativ behaftete Fremdzuschreibung stattfindet und zum anderen es diese Gruppen schon in den Bewerbungsprozessen außerordentlich schwer haben, berücksichtigt zu werden. Denn ihnen und ihren Initiativen stehen nicht selten große, gut vernetzte und etablierte muslimische Vereine und Verbände gegenüber. Daher bleibt es dabei, dass viel Integrations- und Bildungsarbeit auf der Strecke bleibt oder schlichtweg über ehrenamtliche Arbeit gestemmt werden muss, die selten bis gar nicht gefördert wird. An dieser Stelle ist anzumerken, dass es keine Hierarchisierung von Formen der Diskriminierung geben darf, denn jede Form von Diskriminierung ist eine zu viel. Jedoch ist eine breitere Debatte in der Auseinandersetzung mit intersektionaler Diskriminierung in einer multiethnischen und diversen Gesellschaft auf allen Ebenen der Gesellschaft und Politik von hoher Relevanz. Nur durch Entschleierung dieser Zustände können sich betroffene Gruppen darin gestärkt fühlen, diese sensiblen Themen in die Öffentlichkeit zu tragen und sichtbarer zu machen.

Betroffenenperspektive aus jesidischer Sicht: Welche Auswirkungen hat dies, was bedeutet es für das Sicherheitsgefühl?

Lange haben Jesid_innen – ob jung oder alt – bewusst ihre Identität geleugnet, weil sie sich vor Verfolgung und Diskriminierung schützen wollten. Die erste Regel außerhalb der eigenen Community lautete: „Nicht auffallen, sondern anpassen“. Mit dem Genozid an ihnen im Jahre 2014 im Norden des Irak rückten sie jedoch ins Blickfeld der Öffentlichkeit und der medialen Welt. Dadurch wurden bestimmte Schutzmechanismen wie die Geheimhaltung der eigenen Identität zersprengt. Diese Zersprengung reproduzierte sowohl „positive“ (1) wie negative Synergieeffekte auf die Selbstbestimmtheit der Jesid_innen. Einerseits sahen sie sich darin bestärkt, sich offener zu ihrer Identität (kulturell, sprachlich, traditionell etc.) zu bekennen und sich selbst nicht mehr zu leugnen, anderseits bedeutete diese offene Bekennung auch eine Zunahme von rassistischen Erfahrungen, die das Sicherheitsgefühl u.a. auch in Deutschland empfindlich stören kann. Besonders Genozid-Überlebende, die nach dem Genozid zu uns nach Deutschland flüchteten, haben es schwer, sich sicher zu fühlen. Viele von ihnen haben in Unterkünften für Geflüchtete Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren. Erst als einer dieser Fälle in den Unterkünften publik wurde, hat man durch Recherchen erkannt, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelte, sondern System hatte.

Die erste Regel außerhalb der eigenen Community lautete: „Nicht auffallen, sondern anpassen“

Einige dieser Fälle dokumentierte ich im direkten Austausch mit Betroffenen. Sie reichten von rassistischen Dolmetscher_innen und Sozialhelfer_innen, die für Jesid_innen bewusst falsch übersetzten, bis hin zu Geflüchteten aus der eigenen Unterkunft, die besonders während des Fastenmonats Ramadan jesidische Mitbewohner_innen diskriminierten oder ihnen gar den Zugang zur Küche verwehrten, weil diese nicht fasteten. In allen Fällen, die ich dokumentierte, handelte es sich um muslimischen Rassismus gegenüber Jesid_innen. (2) Auch in der Online-Welt der sozialen Medien wie Instagram, Facebook und Co. sehen sich Jesid_innen ständig mit Hatespeech und antijesidischem Rassismus konfrontiert. Dieser Dauerzustand verstärkt das kollektiv geerbte Trauma der jesidischen Gemeinschaft und vernichtet zunehmend auch das Sicherheitsgefühl hierzulande. Nicht selten fallen Jesid_innen daher in eine Situation der Ohnmacht, weil die diskriminierenden Erfahrungen in dieser für sie hochsensiblen Zeit vor allem an ihren seelischen und psychischen Kräften zerren. Insbesondere älteren Jesid_innen fällt der neue Lebensabschnitt in der Diaspora sehr schwer, da sie ihren Lebensmittelpunkt immer noch in der Heimat verorten und sich in einem ständigen Zustand der Entwurzelung sehen, weshalb sie hier kein Gefühl von Sicherheit entwickeln können.

In Diskussionen mit Jesid_innen fiel oft der Satz: „Wir fühlen uns hier sicherer als in der Heimat, doch wir bleiben immer Fremde.“ Vergleicht man ihre Sicherheitslage in Deutschland mit der in der Heimat, so mag das noch immer zutreffen, jedoch bröckelt auch hier das Sicherheitsgefühl – vor allem in Anbetracht der aktuellen Situation der Jesiden und Folgen des Genozids.

Wie ist mit dieser Situation umzugehen?

Zunächst muss ein Bewusstsein für dieses sensible Thema geschaffen werden. Die eigene Community, zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Entscheidungsträger_innen müssen über diese Zustände instruiert und sensibilisiert werden. Denn häufig sind es fehlende Erkenntnisse und ein mangelnder Austausch, die diesen Teilbereich der intersektionalen Diskriminierung verschleiert lassen. Betroffenen Gruppen muss mehr Raum und Gehör eingeräumt werden, damit sie und ihre Erfahrungen nicht weiter unberücksichtigt bleiben. Wenn wir uns Vielfalt auf die Fahne schreiben, muss diese auch in der Umsetzung erkennbar sein. Denn wir sprechen nicht von kleinen Gruppen, die seit Kurzem bei uns Zuflucht gefunden haben, sondern schon vor mehreren Generationen nach Deutschland migrierten und zunehmend Zuflucht in Deutschland suchen. Sie stellen nicht nur eine Zahl in einer Statistik dar, sondern sind zu Mitbürger_innen dieses Landes geworden und haben einen Anspruch darauf, als solche wahrgenommen und behandelt zu werden. Es muss ein aufgeklärtes und reflektiertes Umdenken in der Umsetzung politischer und zivilgesellschaftlicher Ziele für Menschen mit Migrationsgeschichte, die in besonderer Weise von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, stattfinden

Die Hürden für Betroffene wie Jesid_innen sind jedoch erst dann erledigt, wenn ihre Diskriminierungserfahrungen unter anderem und vor allem durch muslimischen Rassismus anerkannt sind. Diesem Aspekt wurde allerdings bis dato wenig Beachtung geschenkt, weshalb dieser Teilbereich der intersektionalen Diskriminierung noch wenig debattiert und behandelt wird. Damit aber diese marginalisierten Gruppen sich in Deutschland sicher fühlen können, müssen wir uns ein umfangreiches Bild ihrer Diskriminierungserfahrungen verschaffen. Hierzu gehört es, dass wir nicht nur die Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft erkennen und benennen, sondern uns auch mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass es auch innerhalb der Migrationsgesellschaft Hierarchien und somit bestimmte Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung gibt.

Zur Autorin: Gian Aldonani (30) ist im Irak geboren und flüchtete im Sommer 2001 im Alter von zehn Jahren nach Deutschland, wo sie in Köln ihre neue Heimat fand. Gian studiert Wirtschaftswissenschaften und Politik an der Universität Köln und ist seit ihrer Ankunft in Deutschland ehrenamtlich aktiv. Sie engagiert sich in diversen Jugendorganisationen und gründete im August 2014 das Hawar Hilfswerk, das traumatisierte Kinder und Jugendliche im Irak unterstützt.

Dieser Artikel ist in der Broschüre des zweiten Bandes „Antimuslimischen Rassismus ernst nehmen – Kritik an muslimischen Organisationen zulassen“ vom Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V: (BDAJ) erschienen und kann HIER heruntergeladen werden.