Shingal/Irak – Nach dem IS ist vor dem IS!?
Im jesidischen Shingal (arab. Sinjar) im Norden des Irak nimmt eine besorgniserregende Entwicklung ihren Lauf. Ähnlich wie in früheren Ereignissen wie in den Jahren 2007 und 2011 rufen kurdische Mullahs aus der Autonomen Region Kurdistan erneut zur Gewalt gegen Jesiden auf. Sie bedienen sich der IS-Rhetorik und stigmatisieren Jesiden als „Ungläubige“, „Teufelsanbeter“ und „Unmenschen“. Diese Form der rhetorischen Entmenschlichung führt zur Entfesselung von Gewalt gegenüber der jesidischen Gemeinschaft. Dies hat zur gemeinschaftlichen Verabredung kurdischer Islamisten zu Angriffen auf jesidische Flüchtlingslager in der Region Kurdistan geführt, die glücklicherweise von den Sicherheitsbehörden noch unterbunden werden konnten.
Was ist passiert?
Vor wenigen Tagen sind 15 arabisch-sunnitische Flüchtlingsfamilien nach Shingal zurückgekehrt. Eine jesidische IS-Überlebende hat unter ihnen einen IS-Kämpfer wiedererkannt und den irakischen Sicherheitsbehörden gemeldet, die schnell reagierten und den Verdächtigen in Haft nahmen. Daraufhin wurden von Extremisten Fotos der sunnitischen Rahman-Moschee in Shingal aus der Zeit des Krieges gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ von 2014 bis 2017 veröffentlicht, die als Militärbasis entweiht und vernachlässigt worden war. Die Beschreibung dieser Fotos lautete: Die Jesiden hätten die Moschee in Brand gesteckt!
An der Hetzkampagne und Verschwörung gegen die Jesiden beteiligten sich nicht nur zahlreiche kurdische Mullahs, sondern auch kurdische Islamisten, die sich in den sozialen Medien für Übergriffe organisierten. Zusätzlich machten sich reichweitenstarke kurdische Influencer an dieser Diffamierungskampagne mit schändlichem Verhalten mitschuldig. Es ist besorgniserregend, wie diese Kräfte ihre Stellung in der kurdischen Gesellschaft missbrauchen, um Hass und Hetze gegenüber Jesiden zu schüren. In unserer Videocollage haben wir die verlinkten Videoaufnahmen der Hetzaufrufe einiger weniger Mullahs sowie weiteres belastendes Material eingebunden.
Unter anderem beteiligten sich folgende Mullahs an der Hetzkampagne:
Mellah Omêd Wahid Kerkûkî
Mullah Amanj Kani Mazûyî
Mullah Cemal Hewramî
Mullah Ebdulxaliq Rûnakî
Mullah Ehmed Kerkûkî
Mullah Enter Badînî
Mullah Feysel Zêbarî
Mullah Herdî Serdar
Mullah Hîwa Hesen
Mullah Hundrên Balîsanî
Mullah Luqman Bahrkai
Mullah Salar Çomanî
Mullah Şerîf Doskî
Die irakischen Sicherheitsbehörden und die oberste Religionsbehörde in Mosul haben die Moschee besucht und die Anschuldigungen untersucht. Das Ergebnis: Seit 2017 ist die Moschee vom IS befreit und steht unter dem Schutz von Jesiden, die das Gebäude als ein “Haus Gottes” betrachten. Die Vorwürfe haben keinen Halt. Ferner ist bekannt, dass örtliche Moscheen u.a. mit Hilfe eines bekannten jesidischen Bauunternehmers ohne Gegenleistung erbaut worden sind.
Dies erinnert an ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit. Bereits im Jahr 2007 wurden Jesiden Opfer schwerer Terroranschläge in Shingal. Al-Qaida wird der bis heute folgenschwerste und opferreichste Terroranschlag seit den Angriffen auf das World Trade Center zugeschrieben. Durch vier Explosionen wurden damals 796 Jesiden getötet und 1.562 weitere verletzt.
Darüber hinaus erlitten Jesiden im Jahr 2011 in Sheikhhan (jesidisches Siedlungsgebiet in der Autonomen Region Kurdistan) Pogrome, nachdem kurdische Mullahs in Freitagspredigten Hass gegen sie geschürt hatten. Es ist bedauerlich, dass Jesiden erneut Zielscheibe von Angriffen werden.
Unser Co-Vorsitzender Caspar Schliephack zu den beunruhigenden Entwicklungen im Irak: „Leider sind Jesidinnen und Jesiden im Irak immer wieder Ziel von systematischen Verleumdungs- und Hetzkampagnen. Im Zentrum dieser Aktionen stehen meist Verschwörungstheorien, die von verschiedenen Akteuren verbreitet werden und teilweise bereits von der Terrororganisation IS dazu benutzt wurden, um Gewalt gegen Jesiden zu rechtfertigen. Die kurdische Regionalregierung muss hier Verantwortung übernehmen und dem Hass endlich Einhalt gebieten. Diejenigen Akteure, die Verschwörungstheorien über Jesiden verbreiten und sich an Hetzkampagnen beteiligen, müssen strafrechtlich verfolgt werden. Sonst ist die Sicherheit der jesidischen Gemeinschaften im Irak ernsthaft bedroht.“
Die jüngsten Ereignisse haben eine alarmierende Realität enthüllt: Die Jesiden leben in ständiger Gefahr, da die Bedrohung eines potenziellen weiteren Völkermords unablässig über ihnen schwebt. Die schockierenden Gewaltaufrufe dürfen nicht unbeachtet bleiben und verdeutlichen die zerbrechliche Sicherheitslage für Jesiden im Nordirak. Diese Ereignisse werfen ein beunruhigendes Licht auf die mögliche Wiederholung von Verfolgungen gegenüber dieser verletzlichen Gemeinschaft.
Wir rufen eindringlich die kurdische und irakische Politik dazu auf, ihrer Verantwortung gegenüber Jesidinnen und Jesiden gerecht zu werden!